Dienstag, 1. April 2014

Sprachlos in Deutschland – Der lange Weg zum Neologismus (Teil 2: heute)



Im Alltag der deutschen Standardsprache kommen wir mit etwa 75.000 Wörtern aus. Man schätzt die Gesamtzahl der deutschen Wörter aber auf 300.000 bis 500.000 (vgl. Haß-Zumkehr:  „Deutsche Wörterbücher - Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte“ S. 386). Da ist es schwer sich was Neues einfallen zu lassen. Trotzdem entstehen täglich neue Wörter aber die wenigsten finden sich später in Wörterbüchern wieder. Woran liegt das?
Bei Wortneubildungen unterscheidet man in Okkasionalismen (individuelle Zufallsbildungen), Wandelerscheinungen (z.B. in Grammatik und Frequenz) und Neologismen. Letztere unterteilen sich in Urschöpfungen mittels Wortbildung und Neubedeutungen (z.B. durch Bedeutungsentlehnung) (aus einer Grafik nach Kinne (1998), Link einer Abschlussarbeit mit einer hervorragenden Übersicht über Wortbildungsprozesse im Deutschen, lesenswert). Ein Neologismus muss entweder eine völlig neue Bedeutung oder eine völlig neue Form enthalten, darf also nicht nur eine Umformung eines bereits vorhandenen Wortes sein und er muss bereits gefestigt sein (es gibt feste Zahlen, wie häufig das Wort in bestimmten Quellen auftauchen muss).

Suche nach Wörtern da draußen.
Die neuen Wörter müssen eine schwierig Bewährungsprobe bestehen. Nach der Entstehung müssen sie sich festigen, müssen akzeptiert werden und schließlich auch ins Wörterbuch integriert werden.

Beispiel 1: „Sitt“

Der Duden startete um die Jahrtausendwende einen Wettbewerb, das Wort zu finden für den Zustand „wenn man nicht mehr durstig ist weil man gerade genug getrunken hat“. Lipton gewann mit dem Vorschlag „sitt“ als Pendant zu satt, ein Wort, was man leicht beugen und flektieren kann, klasse. Der Duden wartete erst einmal die Reaktion in der Bevölkerung ab, ob sich das neue Wort einbürgert, bevor man es mit in den Duden aufnimmt. In der Bevölkerung ist der Begriff zwar bekannt, wie eine blau-rot gestreifte Ente, wird aber nicht wirklich angenommen, also nicht verwendet. Ein Nutzer von cosmiq.de vermutet, dass es dafür einfach keinen Bedarf gibt, da es für „nicht mehr durstig sein“ keine körperliche Empfindung gibt, im Gegensatz zu satt sein. Sinnvolle Vorschläge für diesen Zustand gibt es im Internet dennoch viele. Wolfgang (auf wer-weiss-was.de) schlagt „tronk“ vor. Osmin (auf cosmiq.de) sagt „abgedurstet“ dazu. Man könnte zwar aus dem Schwedischen einfach „undurstig“ übersetzen, aber das wäre ja zu einfach.
Mein Vorschlag wäre ein Wort, was es im Deutschen eigentlich schon gibt, was seine Bedeutung aber verloren hat bzw. die Bedeutung wurde verschoben. Wenn man ein Kind stillt, dann stillt man dessen Durst. Wer eine Flasche Wasser trinkt, stillt ebenfalls seinen Durst. Das korrekte Verb für „nicht mehr durstig sein“ wäre also: Ich bin still bzw. gestillt.
Beispiel 2:
Oft erwähnt aber eigentlich schon lange geklärt: Das Ding, welches auf das Laufband an der Supermarktkasse gestellt wird, um zu signalisieren: meine Waren, deine Waren, heißt „Warentrenner“ oder „Kundentrennstab“. MS-Word kennt es allerdings immer noch nicht.
Beispiel 3:
Was auch immer wieder als Frage kommt und mittlerweile immer noch nicht alle wissen, ist der Name für das Ding, mit dem man verstopfte Abflüsse reinigt. Antwort: Pömpel oder Pümpel (kommt aus dem Norddeutschen und bezeichnet eine Gummiglocke oder Saugglocke) Auch in der Sanitärtechnik oder in Baumärkten spricht man von einer Saugglocke. Das Wort wird aber regional auch noch für andere Gegenstände verwendet.

Beispiele 4 bis 18: Zähnchen im Inneren von CD-Hüllen nennt man „CD-Zentrierhaltung“. Die Gummidichtung im Kronkorken heißen „Kronkorkendichtung“ bzw. „PE-Einlage“ weiß neuchen (auf cosmiq.de). Das Ding, was Geschenkbändchen in viele kleine Streifen schneidet wird unter dem Namen „Schredder“ verkauft wusste schr03 (auf cosmiq.de). Der Kosmetikartikel, mit dem man sich bei der Maniküre die Nagelhaut zurückschiebt, wird  „Rosenholz“ oder „Pferdefüßchen“ genannt, sagt neuchen (auf cosmiq.de). Die Dinger an den Enden von Schnürsenkeln haben verschiedene Bezeichnungen, wie „Endhülsen“ oder „Pinke“. Die Apparatur am Einkaufswagen, wo man Geld einwirft, um den Wagen „frei“ zu bekommen ist einfach ein „Münzschloss“ und das silberne, bewegliche Ding vom Reißverschluss nennt man „Benadelung“ löst c-row in einem Forum. Eierpikser, die durch Anpiksen der Schale verhindern, dass die Schale des Eis beim Kochen springt, tragen den fachlichen Namen „Eierschalensollbruchstellenverursacher“. Die Zehen nennt man jetzt analog zur Hand laut Quelle 3 übrigens Zeigezeh, Mittelzeh und Ringzeh. Das Verlieren des Geruchssinns macht „anosmisch“, der helle Bereich vom Fingernagel heißt „Nagelmond“, transparente Tablettenverpackungen „Blister“ und das Bedienfeld zum Holen des Fahrstuhls nennt man „Anholer“.

In einem 3sat-Wettbewerb hat man versucht auf einige ungelöste Fälle eine Antwort zu finden. Mit Erfolg. Rund 70 neue Worte sollen gefunden worden sein. Darunter „Brötchenwatte“ für das Innere des Brötchens und „Traumbaden“ oder „duseln“ für die Schwebe kurz vorm Wachwerden. Dabei war der sprachbegeisterten Jury wichtig, dass die Wörter nicht so klingen, als hätte man sie sich ausgedacht. Ein Wort muss so klingen, als wäre es immer schon da gewesen.
Die häufigsten Dinge ohne wirklichen Namen sind übrigens Gerüche und Geschmäcker, die bei Parfüm und Wein immer noch durch Umschreibungen ersetzt werden – und keiner stört sich dran.
Es gibt vielleicht ein paar Bedeutungen (Gegenstände, Tätigkeiten oder Zustände) die wir noch nicht mit Worten beschreiben können, aber andererseits gibt es so viele Wörter, die keine Bedeutung haben, wie Liebe, Seele, Gerechtigkeit oder Glück – und daran stört sich auch niemand.


Ein Wort, was ich übrigens durch einen Zufall „erfunden“ habe ist „gescheibter“ Käse. Es war ein Versprecher. Eigentlich wollte ich geschnittener Käse und Käse in Scheiben sagen und raus kam „gescheibt“. Eigentlich ein cooles Wort. Wenn Sie keinen Kommentar im Blog hinterlassen, dann würde ich mich freuen, wenn Sie das Wort demnächst einfach mal verwenden. So, jetzt noch einen Schluck Wasser, dann bin ich „still“.

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